Predigt Pfarrerin Katharina Stähler während der Sommerpredigtreihe 2016

Biedenkopf - Hospitalkirche am 13.08.2016; Kirche Wallau am 14.08.2016

Gesichter der Reformation: Thomas Münzer – radikal und gescheitert

„Dein Reich komme“, so hat uns Jesus beten gelehrt. „Dein Reich, Gott, komme! Wir sehnen uns danach, nach einem Reich das so ganz anders ist als unser menschliches Reich. Ein Reich, in dem die Unterdrückten, die Rechtlosen Gerechtigkeit bekommen, in dem die Hungrigen genug zu essen haben, die Heimatlosen eine Heimat finden, in dem Frieden herrscht. Dein Reich komme, Gott!“ 

Die Hoffnung auf das Reich Gottes ist etwas, was die Christen von Anfang an begleitete. Einer, der sich von dieser Hoffnung hinreißen ließ, war der Theologe Thomas Müntzer.
Manche haben mich gefragt, warum ich als Schweizer Reformierte für unsere Sommerpredigtreihe „Gesichter der Reformation“ nicht über einen der großen Schweizer Reformatoren wie Zwingli oder Calvin predigen wolle.
Nein, über Thomas Müntzer – aber, auch das ist eigentlich nur möglich, weil ich Schweizerin und Reformierte bin und deshalb ein ganz entspanntes Verhältnis zum Reformator Thomas Müntzer haben kann. Als ich in den 1980er Jahren mein theologisches Staatsexamen machte und meine Prüfungsgruppe sich das Thema „Reich Gottes“ als Examensthema aussuchte, da gehörte ganz selbstverständlich Thomas Müntzer zur theologischen Lektüre. Dass die Geschichtsschreibung in der DDR Müntzer zu einem der frühen Revolutionäre machte und lobte und dass er umgekehrt von den lutherischen Kirchen wegen seiner harschen Auseinandersetzung mit Martin Luther jahrhundertelang vernachlässigt wurde – das war uns als Schweizer Reformierte ziemlich egal.
Und deshalb also der Reformator Thomas Müntzer.
Es gibt nicht viele, die jahrhundertelang so umstritten waren wie er.
Wer war dieser Mann?
War er ein "mörderischer Prophet", wie Martin Luther schimpfte? Ein radikalreformerischer Theologe? Also einer, dem die Reformation Luthers nicht weit genug ging, der nicht nur die Kirche reformieren wollte, sondern auch die Gesellschaft. Er forderte mehr Gerechtigkeit, zum Beispiel die Abschaffung der Vorrechte des Adels. Er wollte, dass das gemeine Volk mehr Rechte hat und dass der Reichtum umverteilt werden soll, so dass er allen zugute kommen kann. Also war er vielleicht doch Deutschlands erster Kommunist?
Geboren wird Müntzer 1489 im Südharz. Nach seinem Studium wird er zum Priester geweiht. Er kommt mehrmals nach Wittenberg und lernt Martin Luther kennen und ist von ihm fasziniert. Noch vor Luther schreibt er als erster eine deutsche Liturgie und feiert die Gottesdienste damit.
Müntzer wird Pfarrer in Zwickau. In dieser Stadt gibt es einige wenige Tuchmacher und Kaufleute, die zur Oberschicht gehören und ganz viele Handwerker und Tagelöhner, die immer mehr verarmen. Heftige soziale Konflikte sind das Resultat.
Müntzer stellt sich auf die Seite der Armen. In seinen Predigten wendet er sich gegen die "wuchersüchtige Bösewichter", wie er sie nennt.
Die Mächtigen im Rathaus bekommen es mit der Angst zu tun und fürchten den Aufstand. Sie vertreiben Müntzer. Auf die letzte Quittung seines Lohns schreibt er trotzig: "Thomas Müntzer, der für die Wahrheit in der Welt kämpft".
Er wird immer radikaler. Er will die Hohen Herren zwingen, umzudenken. Er sagt, es sei nach dem Willen Gottes, dass die Mächtigen die Frommen schützen und die Gottlosen bestrafen sollten und wenn sie das nicht tun, dann müsse ihnen die Macht genommen werden. Das Ende der Zeit sei bald gekommen, predigt er, und dass man dieses Ende notfalls mit Gewalt herbeiführen müsse: "Denn die Gottlosen haben kein Recht zu leben."
Es kommt zur Auseinandersetzung mit Luther. Man kann es sehr vereinfacht so darstellen: Luther will sich mit den Fürsten verständigen. Müntzer aber denkt aus der Perspektive derer, die unter genau diesen Fürsten leiden.
Im thüringischen Mühlhausen tritt Müntzer dann schließlich als Revolutionär auf und bricht endgültig mit Luther. Er nennt ihn ein "geistloses, sanftlebendes Fleisch zu Wittenberg" und "Doktor Lügner". Er schreibt, dass jeder ein Recht habe, sich gegen die Obrigkeit zu stellen. "Unsere Herren und Fürsten stehen für eine Grundsuppe des Wuchers, der Dieberei und der Räuberei", schreibt er. Sein Fazit: "Die Herren machen das selber, dass ihnen der arme Mann Feind wird."
Müntzer verspricht: "Das Volk wird frei werden." Seine Vision lautet: "Die Gewalt soll gegeben werden dem gemeinen Volk." Er findet viele Anhänger mit seiner Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit.
Dann kommt es zum Bauernaufstand. Als Leibeigene sind die Bauern der Willkür ihrer Herren völlig ausgeliefert. Sie müssen Frondienste tun, also für ihren Herrn arbeiten, egal zu welchem Zeitpunkt, auch mitten in der Ernte. Sogar ihre Töchter müssen sie oft dem Gutsherrn überlassen, die sogenannte „erste Nacht“ gehört ihm. Wer sich auflehnt, landet in fürstlichen Folterkammern, ihm werden Ohren, Nasen und Finger verstümmelt.
Martin Luther stellt sich auf die Seite der Fürsten und schreibt eine Kampfschrift "Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern" und verdammt die ländlichen Rebellen als "des Teufels", sie hätten "den Tod verdient".
Müntzer hingegen sieht seine Stunde gekommen. Er ruft zum bewaffneten Kampf auf.
Die Bauern haben keine ordentlichen Waffen und überhaupt keine militärische Ausbildung. Bei Frankenhausen am Fuße des Kyffhäuser Berges schlachtet ein fürstliches Heer etwa 6000 Rebellen ab. Müntzer kann fliehen, wird aber bald verhaftet und grausam gefoltert.
Er bleibt allerdings seiner Überzeugung treu. Noch unter der Folter sagt er, sein Ziel sei es, "dass die Christenheit sollt alle gleich werden". Er wird am 27. Mai 1525 geköpft.
Die Niederlage von Frankenhausen wird zum Wendepunkt im Bauernkrieg. Der Adel triumphiert. Die Aufständischen verlieren überall. Tausende werden gefoltert und getötet.
Das ist der weltliche Triumph Martin Luthers über seinen zuletzt erbittertsten theologischen und politischen Gegner Thomas Müntzer.
Noch während Müntzers Gefangenschaft schreibt Luther, ein Gericht Gottes sei über den lügenhaften Mördergeist und beschissenen Profeten Müntzer hereingebrochen. Luther lässt diese Schrift weit verbreiten. Und auch Philipp Melanchton schreibt ähnlich und auch dessen Schrift wird verbreitet.
Müntzer hat verloren. Ganz radikal versuchte er, das Reich Gottes nicht nur als eine Hoffnung zu predigen, sondern es auch herbeizuführen. Müntzer scheitert ganz und gar, schon während seines Lebens, aber auch darüber hinaus. Viele Jahrhunderte gerät er in Vergessenheit. Die wüste Verunglimpfung nach seiner Niederlage durch Luther ist erfolgreich!
Dein Reich komme. 500 Jahre später. Was erwarten wir von der Zukunft? Wie sehen wir im Licht dieser Bitte unsere Gegenwart? Kinder und Enkelkinder werden geboren, was wünschen wir uns für sie? Was hat die Kirche, was hat der christliche Glaube als Antwort auf diese Fragen parat?
Thomas Müntzer verstand die Bitte nach dem Reich Gottes als eine Aufforderung, dafür zu sorgen, dass Gerechtigkeit eingeführt wird – notfalls mit Gewalt. Er liest im Lukasevangelium den Lobgesang Marias: „der Herr stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen“ und versteht das ganz konkret: die Fürsten müssen gestürzt werden– notfalls mit Gewalt, damit die verarmten Bauern und Handwerker zu ihrem Recht kommen.
Wie konkret darf man denn dieses Reich Gottes verstehen? Oder sind die Worte „dein Reich komme“, zwar schöne, aber letztlich nur leere Worte? Die Fragen wären vielleicht einfacher zu beantworten, wenn es dabei nur um das Leben nach dem Tod ginge oder nur um etwas, was ich ganz alleine in meinem Herzen spüren kann. Aber es geht bei dieser Bitte eben um mehr.
„Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde in denen Gerechtigkeit wohnt“, so steht es im 2. Petrusbrief 3,13.
Es geht eben auch darum, dass die Bedingungen des realen Lebens auf der Erde verbessert werden. Dass das Bemühen wächst für ein wenig mehr Liebe, Gerechtigkeit und Frieden auf dieser Welt.
Deshalb setzen sich Christen kritisch mit der Welt und der gesellschaftlichen Ordnung in der sie leben auseinander und versuchen immer wieder aufzuzeigen, wie es auch anders gehen könnte.
Deshalb stellen Christen, stellen die Kirchen immer wieder die Fragen nach Gerechtigkeit und Solidarität.
Die Hoffnung auf das Reich Gottes, das Erwarten des Reiches Gottes – und zwar eben nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden, bleibt ein Warten und ein Hoffen. Noch ist es nicht so weit und wir könnten die Hoffnung verlieren, dass es je so weit sein wird. Aber der Glaube an die Verheißung auf das Reich Gottes gibt uns Kraft, Mut und Zuversicht, uns einzusetzen für eine menschenwürdige, freie und gerechte Ordnung auch unter den Bedingungen und in den Verhältnissen dieser Welt. Gerade auch dann, wenn es so aussieht, als würde das niemals was werden – ein Reich des Friedens, der Gerechtigkeit auf Erden? Wie denn? Wo denn?
Wir können das Reich Gottes nicht selber herbeiführen, nicht errichten. An dieser Illusion und seiner Radikalität scheiterte Thomas Müntzer.
Aber er, der hochgebildete Theologe hat vorgemacht, was es heißt, sich einzusetzen mit Leib und Seele, mit seiner ganzen Klugheit und Gelehrtheit, mit seiner ganzen Leidenschaft für diejenigen, die ungebildet waren, keine Stimme hatten, die ausgebeutet und unterdrückt wurden von der Kirche und von ihren Herren. Müntzer tat es aus dem Glauben heraus, dass die Bitte „Dein Reich komme“, keine leeren Worte sind.
Ich glaube daran, an das Reich Gottes auf Erden.
Ich glaube deshalb daran, weil es immer wieder zum Vorschein kommt, wie ein unterirdischer Fluss, der immer mal wieder, für kurze Zeit, an die Oberfläche kommt. Es ist immer wieder zu sehen in der Menschheitsgeschichte, nicht mit Macht herbeigezwungen, sondern wie ein Geschenk vom Himmel.
Zum Beispiel wenn das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten befreit wird.
Zum Beispiel wenn Menschen wie Franz von Assisi oder Elisabeth von Thüringen ihren Reichtum aufgeben und sich den Armen und Notleidenden zuwenden.
Zum Beispiel wenn der begnadete schwarze Prediger Martin Luther King gegen jede Realität sagt: ich habe einen Traum, dass wir als Schwarze und Weiße einmal Hand in Hand gehen können.
Zum Beispiel wenn sich Menschen über Jahre und Jahrzehnte für fairen Handel einsetzen und damit für mehr Gerechtigkeit in der Welt – und heute können wir faire Produkte in unseren Supermärkten kaufen.
Zum Beispiel wenn sich, so wie seit letzten Sommer, Tausende von Menschen in ganz Deutschland der Flüchtlinge und Heimatlosen annehmen und ganz einfach hingehen und ihnen zeigen, ihr seid uns willkommen.
Das Reich Gottes, ein Traum, ein Glaube, eine Hoffnung, die wir nicht aufgeben wollen, gegen jede Realität, denn wir träumen und glauben und hoffen für unsere Kinder, für unsere Enkel, für die Welt.
Gott, bitte, dein Reich komme, im Himmel und auch auf Erden!

17 August 2016